„Lieber Herr Stöcker, haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage. Sie können das Buch gerne an mich schicken – ich werde es dann an Peter Bieri weiterleiten.“ Die Mitarbeiterin des Carl Hanser Verlags, bei dem Nachtzug nach Lissabon 2004 erschienen ist, war sehr freundlich. Das war am vierten Mai dieses Jahres. Ich hatte gerade meinen Roman Balduins Welträtsel veröffentlicht, in dem Bieris berühmtes Trilemma eine zentrale Rolle spielt. Nach einer Recherche im Netz war mir klar: Pascal Mercier, so Peter Bieris Pseudonym als Romancier, lebt zurückgezogen und meidet die Öffentlichkeit. Aber vielleicht schnuppert er ja in das Buch hinein, so meine stille Hoffnung, und schreibt mir eine kurze Email und sei es nur aus schweizerischer Höflichkeit. Dann hätte ich versucht, ihn zum Zoomposium einzuladen. Anfang Mai wusste ich noch nicht, dass diese Hoffnung unerfüllbar sein würde, denn Peter Bieri verstarb am 27. Juni 2023 mit 79 Jahren in Berlin.

Wenn man das zentrale Thema von Pascal Merciers Leben auf einen einzigen Begriff bringen wollte, dann wäre das sicherlich der Begriff Sprache. So träumt der Protagonist seines letzten Romans Das Gewicht der Worte (2020) davon, die Sprachen aller an das Mittelmeer angrenzenden Länder zu lernen und liebt es, Antiquariate nach alten Grammatiken zu durchstöbern. Doch die Sprache war nicht nur ein Erkennungszeichen des Schriftstellers Pascal Mercier, sondern auch des Philosophen Peter Bieri. Er wolle kein einziges Wort verwenden, das nicht jedermann versteht, soll er einmal gesagt haben. Das ist ein ehrenwertes, aber in der Philosophie des Geistes, jenem Biotop für Wortungetüme und gestelzte Formulierungen, fast schon wieder verstiegenes Unterfangen, bei dem man sich unweigerlich fragt, ob es überhaupt erfüllbar ist. Über Bieri darf man wohl sagen, dass er diesem Ideal erstaunlich Nahe kam. Sein philosophisches Hauptwerk Das Handwerk der Freiheit von 2001 ist nicht nur eine brillante Einführung in die „Entdeckung des eigenen Willens“ in einer von deterministischen Anschauungen geprägten Zeit, sondern auch ein Lehrbuch darüber, wie man philosophische Gedanken in verständlicher und gleichzeitig schöner Sprache formuliert. Eine Kostprobe:

„Wir empfanden uns als Teil der Natur und gleichzeitig als frei und verantwortlich, und nun stellt sich heraus, daß die beiden Dinge nicht zusammengehen, wobei es unmöglich erscheint, das eine für das andere zu opfern.“

Sprachlich schön und bis heute aktuell ist auch Bieris Aufsatz „Was macht Bewußtsein zu einem Rätsel?“ von 1994, in dem er das berühmte „Qualiaproblem“ erklärt, auch wenn dieser Begriff dort noch gar nicht auftaucht. Wie schon im Bieri-Trilemma (1981, ich habe mich hier schon einmal ausführlich damit beschäftigt)  und im „Handwerk der Freiheit“ geht es auch dabei vor allem um zwei Fragen, die in Bieris philosophischem Werk immer wieder eine Rolle spielen:

  • Warum sind mache physiologischen Prozesse (im Gehirn) von Erleben begleitet und andere nicht?
  • Wie kann Erleben in unserem Verhalten kausal wirksam werden? (Problem der mentalen Verursachung)

Bieri geht alle Erklärungsansätze durch, bis hin zu der Möglichkeit, sich die Frage einfach „abzugewöhnen“.

„Es ist Zeit, sich daran zu erinnern, daß Rätsel nicht auf der Straße liegen, daß sie nicht etwas sind, was es in der Welt einfach so gibt. Ein Phänomen, ein Sachverhalt ist stets nur rätselhaft vor dem Hintergrund bestimmter Erwartun­gen des Erklärens und Verstehens; und die können, wie andere Erwartungen auch, berechtigt sein oder unangebracht. Ist es vielleicht so, daß wir einfach zuviel erwarten, wenn wir unbedingt verstehen wollen, in welcher Weise die materiellen oder die funktionalen Eigen­schaften des Gehirns – oder beide zu­sammen – das Entstehen von Erleben notwendig machen?“

Doch er verneint dies schließlich und endet mit den Worten:

„Ich habe das Rätsel des Bewußtseins nicht gelöst. Natürlich nicht. Aber ich hoffe, Sie sehen jetzt besser, worin es besteht und welche Rolle es spielt in unserem Denken über die Welt und uns selbst. Das wäre nicht wenig. Und mehr hat der Titel ja auch nicht versprochen.“

Im letzten Drittel seines Lebens entfernte sich Peter Bieri zunehmend vom akademischen Betrieb und wandte sich dem Schreiben von Romanen und der Poesie zu. Es ist kein Geheimnis, dass dies nicht völlig reibungslos über die Bühne ging. Er war der Ansicht, die Analytische Philosophie verlöre sich in artifiziellen, zum Selbstzweck gewordenen Begriffswelten und Begründungskonstruktionen und bezahle dies mit einer inhaltlichen Leere hinsichtlich der existenziellen Grundfragen. Man könnte auch sagen: Es würden zu viele eitle Sprechblasen produziert. So ist Bieris erster Roman Perlmanns Schweigen denn auch eine Satire auf den universitären Betrieb. Man ahnt, warum er sich ein Pseudonym zulegte.

Der Philosophie blieb Bieri jedoch treu. Die existenziellen Fragen wie Wer bin ich? sind für ihn letztlich nur in der Fantasie und damit der Poesie zu beantworten. (Denn Poesie in Sprache gegossene Fantasie und für Sprache ist Biere Experte.) Oder, anders ausgedrückt:

„Nichts sagt mehr darüber, wer wir sind, als die Geschichten, die wir erfinden.“

Pascal Mercier, Das Gewicht der Worte

Wobei „beantworten“ nicht ganz das richtige Wort ist, „ergründen“ wäre vermutlich besser, denn

„Es geht nicht darum das Mysterium zu verstehen, es geht darum, es zu leben.“

ebenda

Solche Sätze hat nun mancher seinerseits als eitle Sprechblase abgetan. Die Kritiker haben vor allem Merciers spätere Romane zum Teil des Kitsches bezichtigt. Das dürfte ihm, spätestens nachdem Nachtzug nach Lissabon in 32 Sprachen übersetzt und verfilmt worden ist, egal gewesen sein.

Ich persönlich denke, dass Peter Bieri seine sprachliche Klarheit und Brillanz in sein belletristisches Werk hinübergerettet hat. Ich finde dort immer wieder Gedanken, die ich auch schon gedacht, aber noch nie so klar formuliert habe. So sollte Literatur sein. Man wird sowohl Peter Bieri als auch Pascal Mercier noch für sehr lange Zeit lesen.

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Foto: YouTube-Screeshot

Posted by:Axel Stöcker

Axel Stöcker studierte Mathematik und Chemie. Seit 2016 bloggt er zu den „großen Fragen“ der Wissenschaft und des Lebens im Allgemeinen und war damit schon mehrfach für den Wissen-schaftsblog des Jahres nominiert (https://die-grossen-fragen.com/). Einen Schwerpunkt bilden dabei die Themen Bewusstsein und freier Wille. Dazu interviewt er auf dem YouTube-Kanal „Zoomposium“ zusammen mit Dirk Boucsein bekannte Hirnforscher wie Wolf Singer oder Gerhard Roth. Seine Gedanken zu diesem Thema hat der „Skeptiker mit Hang zur Romantik“ nun in dem Roman „Balduins Welträtsel“ verarbeitet.

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